Ausgezwitschert? Zwischen Mastodon und Twitter

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mastodon

Seit Anfang Oktober ist die Anzahl meiner Follower auf Twitter im freien Fall begriffen. Viel schlimmer: die wirklich relevanten Influencer brechen als erstes weg. Von ehemals deutlich über 3.000 Followern ist nicht mehr viel übrig. Beinahe täglich verabschiedet sich jemand auf Nimmerwiedersehen. Auf Nimmerwiedersehen? Na ja, manche hinterlassen eine Grußbotschaft: „Bin jetzt auf Metadon“. Nein, sorry, manchmal bring ich die Ersatzdrogen noch durcheinander: „Bin jetzt auf Mastodon“. Mastodon ist das neue Twix, äh, Twitter. Was tut sich da, seit Elon Musk bei Twitter die Macht übernommen hat?

Ist Twitter am Ende?

Ich weiß nicht, ob Twitter schon am Ende ist. Aber es ist mächtig angeschlagen. Ein paar Zahlen:

Weltweit gibt es ungefähr 1,3 Milliarden Twitter-Accounts, darunter nach Angaben von Twitter rund 50 Millionen Bots. Täglich nutzen mehr als 200 Millionen Menschen den Kurznachrichtendienst mit dem Vogel und versenden an die 500 Millionen Tweets.

In Deutschland war Twitter nie das Massenmedieum wie in den USA. 12 Prozent der US-Bürger*innen geben an, dass sie ihre Nachrichten aus Twitter beziehen. In der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren nutzen 42 Prozent Twitter. Zum Vergleich: In Deutschland nutzen nur neun Prozent der 14- bis 29-Jährigen Twitter. Twitter ist in den USA ein echtes Massenmedium. In Deutschland erreicht Twitter alles in allem nicht einmal acht Millionen Menschen. Die stärksten Accounts spielen noch Ball. Unter den zehn Top-Accounts befinden sich

  • Mesut Özil
  • Toni Kroos
  • FC Bayern München
  • Bastian Schweinsteiger
  • mariogotze.eth
  • adidas
  • Borussia Dortmund

Abgesehen von Fußball-Fans und Tatort-Junkies ist Twitter in Deutschland v.a. ein Medium für Technik-Freaks und – das ist wichtig für Kommunikations-Profis und PR-Leute – „Medien-Macher“ und Journalist*innen. Über Twitter erreichen Unternehmen in Deutschland Influencer und Meinungsführer*innen in Politik und Gesellschaft. Was für Mode und Reise Instagram, das ist für Politik und meinungsbildende Medien Twitter. Wer hier mitspielen will kommt an Twitter nicht vorbei. Und da genügt es nicht einfach einen Kanal zu besitzen und Tweets rauszuhauen, sondern man muss:

  • schnell sein
  • interessant sein
  • Meinung haben
  • sich auf Influencer fokussieren

Kurz: Man braucht eine Strategie für die Kommunikation über Twitter.

Aber braucht man das noch, wenn eben diese Zielgruppe sich von Twitter abwendet, weil Elon Musk in dieser Zilgruppe „unten durch ist“, um es mal ganz vorsichtig zu formulieren?

Was macht Musk?

Was Musk aus Twitter macht ist nicht so ganz klar. Einerseits ist Musk natürlich Unternehmer und er will Twitter durchaus stärker denn je auf kommerziellen Erfolg bürsten. Twitter war nie ein nicht-kommerzielles Projekt, aber Twitter war schon auch in Teilen ein Projekt das von einer Community getragen war, dass sich der freien nicht-kommerziellen Kommunikation verschrieben hat. In vielen autoritären Ländern hat Twitter in erheblichen Umfang demokratische und alternative Bewegungen befördert. Twitter war einmal ein Modell für Graswurzel-Kommunikation: jede*r sendet und es bilden sich themenzentrierte statt machtzentrierte Communities. Im Laufe der Zeit aber wurde Twitter natürlich immer mehr Teil der kommerziellen Medienmaschinerie. Musk nimmt nun keine Rücksicht mehr auf die basisdemokratische Tradition von Twitter. Das is auch nicht seine Tradition.

Musk ist aber noch etwas ganz anderes: Elon Musk hat mehr als einmal radikal rechtspopulistische Töne angeschlagen. Er hat mit Corona-Leugnern kokettiert, Falschinformationen über Impfstoffe verbreitet, er verabscheut und ignoriert Arbeitnehmerrechte und verunglimpft die Woke-Bewegung als antizivilisatorischen Virus. Im Jahr 2016 machte er von sich reden, als er behauptete, die Welt sei nicht real, sondern eine einzige große Simulation. Dass sich insbesondere Journalist*innen kritisch mit ihm auseinandersetzen überrascht nicht. Dass sich seit seinem Engagement für Donald Trump aber auch die werbetreibende Industrie von Twitter abwendet hat ihn überrascht und Twitter in eine existezgefährdende Krise gestürzt.

Anders als bei seinen bisherigen Engagements Tesla oder SpaceX wird Musk bei Twitter kaum von regionalen Behörden unterstützt, also Geld zugesch… Es geht einerseits ganz offensichtlich um zu wenige Arbeitsplätze und andererseits hat er eine große Gruppe einflussreicher Influencer in den Medien gegen sich. Die Reaktion von Elon Musk auf die damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen war von Selbstüberschätzung geprägt und selbstzerstörerisch: die – juristischen fragwürdigen – Massenentlassungen und unternehmensstrategischen Schnellschüsse bei Twitter haben zu Verwerfungen geführt, die das ganze System instabil machen.

Immer mehr Influencer warnen vor Twitter

So überrascht es nicht, dass immer mehr seriöse Influencer vor einem weiteren Engagement bei Twitter warnen. Sascha Pallenberg zu Beispiel hat gerade erst auf LinkedIn gewarnt:

„Zum Schluss vielleicht noch einen Pro-Tipp an die diversen COM-Abteilungen und Account-Betreiber:innen von offiziellen Twitter-Kanaelen: loggt euch nicht aus (die 2 Faktoren-Authentifizierung hat immer wieder Schluckauf) und fordert euer Twitter-Archiv zum Download an. #Musk hat hier in wenigen Wochen einen sicherheitstechnischen GAU geschaffen, der heute durch keinen Cloud-Risk-Prozess mehr durchgewunken werden duerfte. Ich wiederhole mich hier gerne noch einmal: ein Firmenkonto auf Twitter zu betreiben, ist zur Zeit ein Sicherheitsrisiko und das solltet ihr intern asap klaeren! Passt auf euch und eure Daten auf!“

Mit dieser Warnung steht Sascha derzeit nicht alleine. Twitter ist kein stabiles System mehr.

Andererseits: Können wir heute schon auf Twitter verzichten? Und brauchen wir eine Alterative?

Mastodon ist nicht das neue Twitter. Es ist das ganz alte Twitter. Und das ist gut so.

Es gibt einige  Kurznachrichtendienste, die derzeit als Alternative zu Twitter gehypt werden, allen voran Mastodon. Ich bin auf Mastodon (https://mastodon.social/@MichaelKausch). Und meine Meinung ist klar: Mastodon ist nicht das neue Twitter, es ist das ganz alte Twitter. Und das ist gut so.

Erstmal: man muss Mastodon nicht erklären, man muss es selbst ausprobieren. Das ist wie bei Twitter in seinen Anfangstagen. Ich bin bei Twitter 2009 eingestiegen. Und ich habe am Anang alles mögliche ausprobiert. Und es hat damals einfach Spaß gemacht. Und hätte es das nicht, wäre ich nicht dabei geblieben. Und genauso muss das auch sein. Wer eine soziale Plattform nur als Instrument zum Erreichen von Marketing-Zielen betrachtet, der sollte es bleiben lassen. Er wird sie nicht erreichen. Weil man es ihm anmerken wird. Soziale Plattformen funktionieren so, dass auf ihnen Menschen miteinander kommunizieren, nicht Unternehmen. Und wenn Unternehmen dort auftreten, dann über Menschen. Nicht „Über-Menschen“. Wenn ich das hier so hinschreibe, dann ist das kein Altruismus, sondern Erfahrung. Social-Media muss Spass machen, sonst funktioniert es nicht.

Bei Mastodon funktionieren heute einige Dinge nicht so, wie ich mir das wünsche. Auf Twitter hatte ich viele lieb gewordene Kontakte. Obwohl ich schon lange auf Twitter nicht mehr so sehr aktiv bin. Diese Freunde auf Mastodon wiederzufinden ist schwierig bis unmöglich. Es gibt einige Tools, von denen viele aber nur miserabel funktionieren. Am besten hat mir noch Fedifinder gefallen.

Noch so ein Problem: Vor wenigen Tagen jammerte ein netter Mastodon-Kontakt, der einen tollen Reisebericht aus Israel publizierte, und dem ich dafür meinen Dank aussprach: „Vielen Dank, das freut mich riesig. Hier ist es noch schwierig für mich einzuschätzen, ob ich nicht ins Leere kommuniziere.“ Man erhält auf Mastodon derzeit kaum Feedback auf das, was man dort schreibt. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine ist technischer Natur: Im Vergleich zu Twitter erhält man zwar eine kurze Information sobald jemand einen Beitrag liked („favorisiert“ heisst das hier) oder teilt, eine übersichtliche einfache Statistik wird aber nicht konsolidiert. Wichtiger aber ist der zweite Grund: die Early Adapters auf Mastodon sind die Meinungsführer von Twitter. Das sind die, die schon auf Twitter viel geschrieben haben und viel gelesen wurden, die aber selten selbst kommentiert und gefeedbackt haben. Die sind es nicht gewohnt mal zu kommentieren „Dein Beitrag hat mich interessiert“. Die sind es gewohnt zu lesen „Mein Beitrag wurde als interessant empfunden“. So schreiben wir alle vor uns hin und es fehlt am Ende der Applaus weil wir zu applaudieren längt verlernt haben. Aber das wird sich geben mit einer geänderten „Sozialstruktur“ im „Fediverse“ – so nennt sich das Universum des Mastodon, ein Kunstwort aus „Federation“ und „Universe“. Und das bringt mich auf das nächste Problem:

Das Mastodon ist viele

Das Mastodon ist viele. Und das schreckt viele ab. Muss es aber nicht. Tatsächlich handelt es sich um ein Fediverse, um ein Netzwerk aus vielen unabhängigen sozialen Netzwerken. Man kann sich also bei Mastodon einem von zahlreichen Netzwerken anschließen. Jedes läuft auf einem anderen Server. Manche sind thematisch, andere regional organisiert. Jeder Server-Betreiber hat eigene Regeln, zum Beispiel welche User blockiert werden. Einige werden streng und hilfreich moderiert, andere eher nach dem Laisser-fair-Prinzip. Aus der Wahl des richtigen Server-Betreibers kann man eine Wissenschaft machen oder man fängt einfach mal irgedwo an. Eine Überscht über deutsche Anbieter gibt es hier. Ein späterer Wechsel ist überaus einfach und nicht mit dem Verlust von Daten verbunden. Und das ist meine Empfehlung: Verkopft Euch nicht: fangt an! (Wobei mir nie klar werden wird, warum man sich bei einem Social Network an einer geografischen Region orientiert, dann doch lieber Feuerwehr oder dju, aber was soll’s …)

Die App zum Mastodon

Mit welchem Tool man Mastodon nutzen soll … ich weiß es nicht. Der oben schon erwähnte und geschätzte Sascha Pallenberg – und viele meiner Freunde auch – empfiehlt Tusky. Mit Tusky kann man „Toots“ (so heißen hier die „Tweets“) planen. Das ist ein gewichtiges Argument. Auch für mich. Trotzdem bin ich mit Tusky noch nicht warm geworden. Ich arbeite ja mit integrierten Tools (v.a. Hootsuite, auch Hubspot) und da gibt es einfach noch keine Schnittstellen zu Mastodon. Ich gebe also vorläufig keine Empfehlung ab. Tootet doch wie Ihr wollt. Aber tootet.

Orientierung in Mastodon

Ich bin auch kein Freund von Orientierungshilfen. Auch wenn ich eine fremde Stadt „erobern“ will, dann laufe ich am liebsten los. Reiseführer bringen mich ja immer nur zu den Orten, wo schon andere Touristen sind. Wie langweilig. Ich lass mich lieber treiben und überraschen. Und bei Mastodon herrscht derzeit noch eine solch tolle Aufbruchstimmung. Diese „Stadt“ ist noch so spannend und voller Überraschungen, dass es einfach Spaß macht loszulaufen. Tipps würde ich persönlich erst nach vier Wochen lustvollen Irrungen und wahnwitzigen Wirrungen lesen. Und diese Empfehlung gilt auch für Marketing-, PR-, Social-Media- und sonstige Leiter. Vier Wochen Lust-Phase müsst Ihr euch gönnen. Für die Professionalisierug ist dann immer noch Zeit. Und dann könnt Ihr auch gerne die Tipps von – schon wieder – Sascha Pallenberg auf LinkedIn lesen. Er hat auch alles Notwendige gesagt zum Thema Datenschutz und so. Das Thema Netiquette habt Ihr hoffentlich nicht nötig (oder doch?).

Ich selbst expertimentiere auch noch. Zum Beispiel mit der Einbindung von Mastodon in meine sonstigen Social-Media-Accounts und in meine diversen Blogs. Von meinen Kunden ist noch kein einziger im Mastodonium. Aber das wird schon. Und was ist jetzt mit Twitter?

Mastodon und/oder Twitter?

Meine Kunden fragen derzeit immer häufiger „Soll ich in Twitter bleiben und viele lange noch?“ Nun, meine Antwort ist nicht so einfach, wie mein Tool, das ich zur Beantwortung einsetze.

Ich nutze seit vielen Jahren Audiense um regelmäßig auszuwerten wie viele potenzielle Influencer sich unter den Followern der Twitter-Accounts meiner Kunden – und unter meinen Followern – befinden. Das ist ganz aufschlussreich und meine Kunden sind meistens sehr erschrocken, wenn sie unter 2.000 Followern gerade mal 20 potenzielle Influencer für den deutschsprachigen Raum entdecken. Für schnelle Follower-Analysen ist Audiense ein wunderbres Tool. Und wen man das gemacht hat, dann schaut man mal schnell nach, wie viele dieser Influencer schon auf Mastodon sind. Und solange eine relevante Anzahl von Influencern über Twitter schon  erreicht werden, aber auf Mastodon noch gar nicht präsent sind, solange empfehle ich meinen Kunden den doppelten Rittberger: Bleibt auf Twitter und baut zugleich Eure Präsenz im Mastodon auf!

Der Rat Twitter weiter zu betreuen, hängt also von zwei Variablen ab:

  • vom qualitativen Erfolg der bisherigen Twitterei: hat man keine Beziehungen zu Influencern aufgebaut, dann kann man sich auch aus Twitter verabschieden
  • von der Präsenz der relevanten Influencer auf Mastodon – und die ist branchen- und themenabhängig

Mastodon aber ist immer ein Must to do.


Titelbild: auntspray @ stock.adobe.com

 

1 Antwort
  1. Markus says:

    tl;dr: Instanzen: It’s not a bug, it’s a feature.
    Pro-Tipp, weil alle immer so ein Gewese um die Problematik der „Instanzen“ machen (das sind die verschiedenen Anbieter auf denen Mastodon läuft): ich finde es sehr sympathisch, dass es das gibt, so kann man sich einen Anbieter seiner Wahl aussuchen, bei dem man sich „gut aufgehoben“ fühlt. Dafür kann man ruhig auch etwas bezahlen, ich z.B. 1 Euro pro Monat bei digitalcourage. Eine Liste mit Instanzen gibt es z.B. hier: https://joinmastodon.org/de/servers Die Problematik ist die gleiche, wie bei Twitter: wenn der Hausherr durchdreht oder dich abdreht hast du ein Problem. Dann kann man aber immer noch auf andere Instanzen umziehen. Allerdings gehen die Toots dabei verloren, die Follower nicht, die Follows müssen allerdings neu importiert werden. Einen ganz gute Umzugshilfe gibt es hier: https://gnulinux.ch/mastodon-konto-umziehen
    Was ich aber eigentlich sagen wollte: nachdem viele Instanzen sich thematisch orientieren, kann man einfach auf deren Startseite gehen und dort nach deren Mitgliedern suchen und denen von der eigenen Heimatinstanz einfach folgen. Dafür muss nur einmal den eigenen Mastdodon-Account eingeben und dann geht das über zwei Klicks. Finde ich ein schönes Feature.

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