„Barrierefreiheit macht das Internet für alle besser“

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Rechts sieht mann einen jüngeren Mann von hinten mit Baseballkapp rückwärts. Er steht vor einem Bildschirm auf dem verschiedene Computermäuse sichtbar sind. Seine missgebildete Hand bedient ein Gerät. Rechts am Schreibtisch steht ein großer PC.

Barrierefreiheit ist ein wichtiges Stichwort in vielen Unternehmen, wenn es um Projekte zur Diversität und Inklusion geht. Als Leiterin des Test.Labor Barrierefreiheit hat uns unsere ehemalige Kollegin Susanne Baumer im Interview erklärt, wie Webseiten barrierefrei werden und wie sie zum Profi gegen Barrieren im Web geworden ist. Mit ihrem Wissen hat sie vibrio bei der Design- und Content-Entwicklung einer barrierefreien Webseite für den Anderen Leistungsanbieter input inklusiv unterstützt (Dass die Content-Erstellung auf Basis eines Wording-Workshops erfolgte und wir auch noch ein Corporate Design für Visitenkarten, Briefpapier und Unternehmenspräsentation sowie einen Flyer entworfen haben, ist dabei fast Nebensache).

Historisch betrachtet fußt vibrio in der Technologie-PR: Software, Hardware, Telekommunikation und Internet. Da haben wir unsere Wurzeln. Doch unsere Branchenschwerpunkte fächern sich immer weiter auf. Das hängt damit zusammen, dass Unternehmen einer Agentur, die verständlich über Admin-Konsolen und Router fachsimpeln kann, auch zutrauen, über Logistik und Medizin zu schreiben. Gleichzeitig dringt durch die allumfassende Digitalisierung IT-Technologie in immer mehr Branchen tief ein. Unser Content-Marketing macht vor nichts und niemandem halt, will heißen: Wir schreiben und gestalten punktgenauen, attraktiven Content für alle Plattformen und Kanäle und nicht nur für Journalisten in der Pressearbeit.

Manche Projekte sind Herzensprojekte. Eines davon möchte ich Ihnen heute vorstellen. Bei unserer neuesten Referenz war es unser Auftrag, die typische Sprache von Sozialorganisationen aufzubrechen. Die Ansprache von Menschen mit Behinderungen, die einen Platz im ersten Arbeitsmarkt suchen, sollte den Mitleidston und den Ämtersprech loswerden sowie sich am professionellen Recruiting orientieren. Unser Auftraggeber heißt input inklusiv. input inklusiv ist ein sogenannter „Anderer Leistungsanbieter“ nach dem Sozialgesetzbuch. Sie bieten Beschäftigungssuchenden mit psychischen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen ein individuell zugeschnittenes Programm, das sie branchenübergreifend direkt auf den ersten Arbeitsmarkt qualifiziert und vermittelt. 

Das Bild zeigt das obere Drittel der Webseite von Input Inklusiv.
Das Bild zeigt das obere Drittel der Webseite von input inklusiv.

Für die Ansprache der Jobsuchenden, der Arbeitgeber, der Angehörigen und weiterer Partner haben wir strategisch und visuell eine neue Webseite entwickelt und getextet. Technisch umgesetzt wurde sie vom Webwerk der Stiftung Pfennigparade. Das Münchener Sozialunternehmen bietet Menschen mit Körperbehinderung und anderen Beeinträchtigungen Angebote in den Lebensbereichen Bildung, Arbeit, Wohnen, Medizin und Freizeit.

Im Webwerk der Pfennigparade-Werkstatt arbeiten Menschen mit so schweren Behinderungen, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht beschäftigt werden. Beim Erstellen von barrierefrei zugänglichen Websites wird das Webwerk von der Medienschmiede, die barrierefreie Videos und Webinhalte produziert, und dem Test.Labor Barrierefreiheit, in dem Websites und Produkte auf Zugänglichkeit geprüft und zertifiziert werden, unterstützt. Geleitet wird dieses Digitalangebot seit 2018 von unserer ehemaligen vibrio Kollegin Susanne Baumer, die sich dabei zu einer Expertin für digitale Barrierefreiheit weitergebildet hat.

Susanne Baumer Leiterin Test.Labor Barrierefreiheit mit einem freundlichen Lächeln und der Hand auf einem Gerät am Schreibtisch.
Susanne Baumer Leiterin Test.Labor Barrierefreiheit (Foto: Andrea Mittermeier)

Wie bist du von vibrio zur Pfennigparade und zum Test.Labor Barrierefreiheit gekommen? Beschreibe doch den Bloglesern kurz deinen Werdegang.

Nach vibrio war ich sehr lange bei einem der Fraunhofer-Institute für PR und Marketing zuständig. Obwohl mich die PR nie loslassen wird, wollte ich nach fast 20 Jahren PR nochmal etwas anderes machen. Ich bin dann zur Verbraucherzentrale Bayern gewechselt und habe dort gut zwei Jahre das Projektteam Marktwächter digitale Welt geleitet. Das war eine unwahrscheinlich spannende Zeit. Wir haben digitale Dienstleistungen auf Verbraucherfreundlichkeit untersucht, also Vergleichsportale, Partnerbörsen und Ticketreseller. Und dann lief mir die Stellenanzeige der Pfennigparade über den Weg und hat mich sofort angesprochen. 2018 habe ich den Bereich mit rund 30 Mitarbeitenden übernommen. Seitdem haben wir uns konsequent auf das Thema digitale Barrierefreiheit spezialisiert und im Jahr 2022 das Test.Labor Barrierefreiheit eröffnet. Ende 2023 werden im Bereich knapp 70 Mitarbeitende mit und ohne Behinderungen als Webprogrammierer*innen, Online-Redakteure, Video-Cutter*innen und Tester*innen auf digitale Barrierefreiheit arbeiten.

Von der PR-Agentur über die Pressestelle bei einem der Fraunhofer-Institute zur einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen klingt nach einem Bruch. Deswegen die Frage: Wenn du jetzt zurückblickst, wie unterscheiden sich deine beruflichen Stationen voneinander und was verbindet sie?

Ich habe mal in einem Personal Development Blog gelesen: Irgendwann findest du den Job, bei dem alle deine Fähigkeiten gebraucht werden, und das ist dann dein Beruf. Und hab mir gedacht: So ein Blödsinn! Ist es aber nicht. Hier in der Pfennigparade kann ich alles einbringen, was ich in meinem Berufsleben gelernt habe. Grundlegende HTML und Webkenntnisse hab‘ ich mir schon als Hiwi am Rechenzentrum in der Uni Passau angeeignet. Bei vibrio hab ich nicht nur ganz wesentliche Aspekte der PR kennen gelernt sondern auch ganz viel über Marketing und Vertrieb erfahren. Und ich konnte mir erste Sporen beim Umgang mit Kunden verdienen. Beim Fraunhofer ESK gehörte dann zu meinem Aufgabenbereich nicht nur die Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch die Projektleitung der Strategieplanung. Und all das hat mir geholfen hier in der Pfennigparade einen Bereich zu übernehmen, strategisch auszubauen und das Angebot bei den richtigen Zielgruppen bekannt zu machen.

Nun haben wir einiges über dich erfahren, aber noch nichts über Barrierefreiheit. Ein Wort, bei dem ich erst an kaputte Aufzüge an Bahnsteigen und Stufen beim Eingang ins Restaurant denke. Was gehört alles zur Barrierefreiheit?

Barrierefreiheit heißt, dass jeder Mensch Produkte, Dienstleistungen und Orte ohne fremde Hilfe nutzen und besuchen kann. Das betrifft dann eben alles, also neben dem Besuch des Restaurants auch, dass auch blinde Menschen Geld abheben können, ohne einer anderen Person die PIN zu nennen. Oder selbständig ihre Abgeordneten wählen. Gerade digitale Produkte bieten da ein großes Potenzial. Digitale Texte können eben sowohl gesehen als auch vorgelesen und damit gehört werden.

Warum ist Barrierefreiheit so wichtig? Man könnte doch meinen, dass vor allem Schwerbehinderte Betreuer haben, die ihnen helfen, wenn sie etwas aus dem Netz brauchen. Und bei anderen dauert es halt etwas länger oder sie benötigen spezielle Bildschirme oder Sound-Ausgabegeräte.

Zum einen ist es wichtig, dass auch Menschen mit Behinderungen selbständig und selbst bestimmt machen können, was sie wollen. Zum anderen wird jetzt eine Generation alt, die es gewohnt ist, alles Mögliche im Internet zu machen. Und nur weil ich mit dem Alter weitsichtig werde, möchte ich nicht meine Enkel bitten, mein Online-Banking zu übernehmen. Das will ich weiterhin selbst machen. Digitale Barrierefreiheit macht das Internet für alle besser.

Müssen wirklich alle Webseiten barrierefrei sein oder werden?

Die Frage ist doch eine andere: Wer kann es sich leisten 30 Prozent der Menschen auszuschließen und zusätzlich auf ältere Kunden zu verzichten?

Wenn wir uns der Barrierefreiheit im Internet zuwenden. Kannst du unseren Lesern drei grundlegende, einfach umzusetzende Tipps für eine barrierefreie Webseite geben?

Der erste Tipp könnte auch aus einem Kurs für gutes Texten kommen: Klare Textstruktur und aussagekräftige Überschriften. Damit kommen Menschen mit verringerter Aufmerksamkeit – ob wegen einer Hirnschädigung oder aus Müdigkeit – besser durch den Inhalt.

Als Zweites ist es wichtig, dass der Linktext konkret angibt, wo es hingeht. Also „Finden Sie hier“ ist nicht wirklich hilfreich, sondern eher „finden Sie auf der Website von XXX“. So weiß man schon vorher, wo der Link hinführen wird.

Und drittens sollten alle Informationen mit zwei Sinnen wahrnehmbar sein. Text kann man lesen oder sich vorlesen lassen. Wenn ein Bild nicht ausschließlich Schmuck ist, muss der Alternativtext beschreiben, was darauf zu sehen ist. Und Videos mit Ton brauchen Untertitel, die das gesprochene Wort wiedergeben.

Und was gehört weiter zu einer perfekt barrierefreien Webseite?

Ganz wichtige Dinge sind nicht so leicht umzusetzen. Die komplette Website muss auch ausschließlich mit der Tastatur zu bedienen sein, also komplett ohne Maus. Und meine Lieblingsregel ist, dass in Formularen die Fehler konkret benannt werden müssen. Also „Füllen Sie alle Felder aus“ reicht nicht, es muss vielmehr stehen „Tragen Sie Ihre Telefonnummer mit Vorwahl und ohne Leerzeichen ein.“ Dazu muss dann das falsch ausgefüllt Feld markiert werden. Wenn das überall schon umgesetzt wäre, würde ich mir viel Zeit mit der Fehlersuche sparen. Das sind nur zwei Beispiele. Alle Aspekte sind in der europäischen Norm EN 301 549 festgehalten. Dies betrifft übrigens nicht nur Webseiten, sondern auch Software, Apps und Dokumente.

Taub, blind, mit eingeschränkter Beweglichkeit der Hände, kurze Konzentrationsspanne, kognitiv eingeschränkt – für einen nicht behinderten Computernutzer wäre die Arbeit am PC mit solchen Barrieren undenkbar. Was kann Barrierefreiheit, auch technisch am Endgerät, alles leisten? Wie viel Behinderung lässt sich damit tatsächlich ausgleichen?

Gut gemacht ist die Digitalisierung ein Segen für Menschen mit Einschränkungen. Es gibt unwahrscheinlich viele clevere Hilfsmittel – Augensteuerung, Spezialtastaturen und Mäuse, und Sprachsteuerung. Mit denen ist dann zum Beispiel in barrierefreien Shops selbst bestimmtes Einkaufen möglich. Ich habe einen querschnittgelähmten Kollegen, der durch Videokonferenzen endlich selbstbestimmt, also ohne Helfer*in zum Öffnen der Tür, an Meetings teilnehmen kann. Das ist ein unschätzbarer Gewinn an Menschenwürde.

Für diejenigen, die sich nicht vorstellen können, was möglich ist, haben wir einen Videoreihe begonnen. In den Handicap Hacks zeigen wir, was alles möglich ist.

Rechts sieht mann einen jüngeren Mann von hinten mit Baseballkapp rückwärts. Er steht vor einem Bildschirm auf dem verschiedene Computermäuse sichtbar sind. Seine missgebildete Hand bedient ein Gerät. Rechts am Schreibtisch steht ein großer PC.
Arbeit im Test.Labor Barrierefreiheit (Foto und Titelbild: Test.Labor Barrierefreiheit)

Welches Angebot habt ihr im Test.Labor Barrierefreiheit?

Im Test.Labor Barrierefreiheit unterziehen wir Produkte, Dienstleistungen und Webanwendungen Usability Tests. Dabei können die Entwickler sich beispielsweise zusammen mit unserem blinden Kollegen anhören, wie sich ihre Website mit einem Screenreader anhört. Das sind Programme, die nicht nur den Text auf einer Webseite vorlesen, sondern auch die semantischen Informationen, also etwa „Er folgt eine Liste mit 5 Einträgen. Erster Eintrag …“. Erstaunlicherweise sind wir die ersten in Deutschland, die die Usability Tests von Produkten systematisch durch Menschen mit Behinderung machen lassen.  Darüber hinaus machen wir Konformitätstest für Webseiten, also überprüfen, ob alle Punkte der EN 301 549 erfüllt sind.

Und die letzte Frage: Ich hatte jetzt immer einen Desktop-PC oder ein Tablet vor Augen, was ist mit Smartphones und Barrierefreiheit?

Auch behinderte Menschen nutzen Smartphones. Warum auch nicht? Gerade Smartphones bringen von Haus aus viele Funktionen bereits mit, zum Beispiel die Sprachsteuerung.

Und ganz zum Schluss: Hast für uns noch ein paar Tipps, wo man sich zum Thema Barrierefreiheit informieren kann: Webseiten, Newsletter, Verbände?

Da möchte ich für alle bayerischen Leser*innen die Beratungsstelle Barrierefreiheit, gefördert von Bayern Barrierefrei, nennen. In dem Rahmen produzieren wir auch die Barriere? Los! Newsletter und Podcasts.

Bei den Veranstaltungen der IAAP DACH (International Association of Accessibility Professionals) gibt es regelmäßig Informationen von Profis, zum Beispiel zu barrierefreien Websites, Online-Shops und PFD-Dateien.

Die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT Bund) hat zahlreiche Handreichungen zur Entwicklung barrierefreier Software, Apps und Websites veröffentlicht. Die sind auch immer einen Blick wert, da die von Praktikern entwickelt werden.

Danke für das Gespräch. Wir wünschen dir weiterhin erfolgreiches Testen und Beseitigen von Barrieren.

1 Antwort
  1. Michael Kausch says:

    Ich habe in diesem Prozess viel für mich persönlich gelernt. In einem wichtigem Punkt habe ich mein Social-Media-Verhalten nachhaltig verändert: ich chte nun immer auf ausführliche Bildbeschreibungen bei der Veröffentlichung von Bildern in sozialen Medien. Bei Mastodon (https://mastodon.social/@MichaelKausch)achtet auch die Community sehr darauf. Dort wird man inzwischen schon abgestraft, wenn man es vergisst. Es gibt eine starke sehbehinderte Photo-Community auf Mastodon. Inklusion ist wichtig. Gut so.

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