Musik macht klug. Man merkt es der Hifi-Branche nur nicht an. Ein Wehklagen drei Wochen vor der IFA.
In drei Wochen öffnet die IFA in Berlin ihre Pforten, „das fünftägige Technik-Feuerwerk voller Events und Überraschungen“, die globale „Tech-Show für Consumer- und Home Electronics“. Kleiner geht’s nicht in Berlin. Ist ja ein Hauptstadt-Event.
Eigentlich bin ich ja Stammgast auf der Münchner HIGH END. Die fand schon im Mai statt. Und da konnte ich in diesem Jahr nicht dabei sein, weil ich beruflich anderweitig beschäftigt war. Nun kenne ich aber in Berlin eine ganze Reihe sehr angenehmer Restaurants und ebenso feiner Menschen und man könnte ja mal Magen und Ohren gleichermaßen angenehm versorgen und die IFA besuchen. Aber lohnt die IFA für Hörmenschen?
Werfen wir mal einen Blick in die Aussteller-Liste um nachzusehen, wer aus der Highend-Ecke anwesend ist:
Audio-Technica ist da. Das klingt schon mal ganz gut und riecht nach Vinyl. JVC/Kenwood wirbt schon in der Übersicht mit Car-Hifi, Heimkino, Profi-Video und Funkgeräten. Da werden gute alte Hifi-Gerätschaften wohl nur ein Nischendasein spielen. Lenco – ein großer alter Name in der Vinyl-Szene – kündigt einen kompakten Plattendreher mit eingebauten Lautsprechern, einen Blauzahnlautsprecher und einen tragbaren CD-Spieler an. Falsche Baustelle… Dann sind da noch Nubert, die treue Seele, StreamUnlimited und … äh … und … äh … nein, das war’s dann auch schon für’s gehobene Ohr aus der Rubrik „Audio“ laut Ausstellerverzeichnis mit Stand 12. August. Der Rest ist Gewürge, etwa ein solarbetriebener Kopfhörer aus Schweden und die „Tenerife Tourism Corporation“. Was die wohl zum Thema Audio beizutragen haben?
Auf der IFA gibt’s vertikale Mäuse aufs Ohr
Nicht unterschlagen möchte ich die Marketing-Abteilung von T’nb France, der es endlich gelungen ist, „durch die Kombination [ihrer] […] technologischen Stärken mit unbändiger Kreativität und einem ausgeprägten Sinn für Design […] im Laufe der Jahre Trends zu antizipieren.“ Sie „greifen neue Moden, Gewohnheiten und Lebensstile auf und nutzen diese Trends, um Produkte zu entwickeln, die die immer anspruchsvolleren Verbraucher zufrieden stellen. Mit intelligenten und originellen Produkten hebt sich die Marke ab und erobert den Zubehörmarkt in den Bereichen Multimedia, Smartphones, Audio, Image, IT-Schutz, Home, Incar und Urban Moov.“ Aber ob ich wirklich nach Berlin fahre um mir deren sensationellen doppelt gelenkigen Monitortragarm anzusehen? Oder die „vertikale, wiederaufladbare, kabellose Maus“?
Machen wir’s kurz: Die IFA ist keine Hifi-Messe! Und die HIGH END?
Die HIGH END ist das große Requiem der Hifi-Branche
Die HIGH END ist – nun ja – genau die Messe, die diese Branche verdient hat! Für allzu viele Aussteller gilt eine Beteiligung auf der HIGH END schon als Erfolg, wenn man mal wieder alte Freunde getroffen hat. Das passt schon, wenn die HIGH END SOCIETY ihren Abschlussbericht betitelt „Grosse Wiedersehensfreude der Branche auf der High End 2022“. Hauptsache der Branche gefällt es. Wir lassen es krachen und wenn der ganze Laden den Bach runter geht.
Egal wen man heute fragt: Die Highend-Branche lamentiert über Kaufzurückhaltung, über eine mehrdimensionale Krise, die die Hersteller gleich von mehreren Seiten her fatal trifft:
- Da fällt mit den kriegslüsternen Russen grad ein lukrativer Markt komplett weg.
- Da brechen Lieferketten zusammen, weil die Container mit Bauteilen irgendwo auf den Weltmeeren liegen bleiben.
- Da knabbern einige Kollegen an den Folgen des Brexit.
- Da überleben zahlreiche Ladenbetreiber die COVID-Pandemie nicht.
- Ach ja: Und da ist da noch dieses Internet und der Online-Handel, für das der etablierte Highend-Fachhandel seit Jahren kein Rezept hat.
Kein Wort davon und von Strategien zur Krisenbewältigung, aber „überschwängliche Begeisterung“ im Abschlussbericht der Branchenleidtmesse.
Das Internet und der Hörraum
Zum Thema Internet höre ich seit Jahren immer die gleiche Mär: Musik muss man doch „anfassen“. Die Renaissance des Vinyls sei schließlich ein schönes Beispiel für die goldene Zukunft von Highend. Da lügt sich eine Branche sauber was ins Leichentuch.
Laut gfu (Gesellschaft zur Förderung der Unterhaltungselektronik in Deutschland) stieg die Zahl der verkauften Plattenspieler von 2019 auf 2020 um rund 10 Prozent von 145.450 auf immerhin 160.000. Damit machte der Handel einen Umsatz in Höhe von 360 Millionen Euro im Jahr 2020 nach 300 Millionen im Vorjahr. Und nun errechnen wir hieraus mal den Durchschnittspreis pro Gerät: Der stieg von 206 auf 225 Euro! Mit Highend hat das alles aber auch rein gar nichts zu tun. Für diesen Preis gibt es auf der HIGH END vielleicht mal einen Plattenbesen von Transrotor am Goldstängle. Dieser Markt läuft an Highend komplett vorbei und spielt auch in Dimensionen, in denen sich Hersteller von Stabmixern kaum ein Lächeln verkneifen können. Deshalb findet dieser Markt auf der IFA einfach nicht statt.
Für den durchschnittlichen Highend-Fachhändler hat sein Fachverband bis heute noch keine Antwort auf die Herausforderung Online-Handel gefunden. Der stationäre Handel benötigt Hilfe beim Aufbau hybrider Vertriebswege:
- Wie kann ein qualifizierter Highend-Händler ein zweites Standbein im Internet aufbauen?
- Wo bekommt er Unterstützung auf diesem Weg?
- Gibt es eine Infrastruktur, über die er Online-Communities entwickeln kann, die er regelmäßig in seinen Laden „entführen kann“? Stichwort: Event-Management.
Die Branche muss auch endlich diskutieren, welche Auswirkungen der hybride Handel auf die Vertriebsstrukturen hat. Andere Branchen haben es doch längst vorgemacht: ein dreistufiger Vertrieb Hersteller-Distribution-Fachhandel verliert – jedenfalls in der herkömmlichen Form – vermutlich seine Daseinsberechtigung.
Was sind die Konsequenzen?
- Können Hersteller einen Direktvertrieb aufbauen ohne einen – verkleinerten – stationären Handel zu kannibalisieren?
- Was müssen Fachhändler mitbringen, die überleben wollen? Welche Qualifizierungsmaßnahmen sind notwendig? Kann sie ein Verband hierbei unterstützen?
- Welche Rolle spielen die Distributoren künftig? Werden sie zu Online-Händlern? Oder zum Kern von Fachhandels-Ketten?
Was hat eigentlich der Kunde von diesen Veränderungen? Schließlich wird er es sein, der diese Veränderungen erzwingt. Der Kunde ist ja bereit, für guten Service und auch für den Genuss und die Qualität guter Beratung im Hörraum zu bezahlen. Aber Service und Hörraum sind teuer. Und unbedingt notwendig ist eine Verschränkung von lokalem Service und virtuellem Erlebnis. Musik findet eben heute – und das sage ich als Vinyl- und Röhren-Hörer – zum guten Teil digital und virtuell statt.
Das Elend der Branche
Während die Branchengeister feiern, dass man sich gegenseitig endlich mal wieder zum Maskenball in München trifft, geht es mit der Zukunftsfähigkeit der Branche kaum voran:
- Die SEO-Leistung der meisten Online-Auftritte, selbst der großen Player auf dem Markt, ist jämmerlich. Viele wissen das sogar, wissen aber nicht, wie sie dies ändern können.
- Content Marketing und Storytelling sind für fast alle weiterhin ein Fremdwort. Wenn mal ein Blog aufgebaut wird, dann lässt man ihn nach kurzer Zeit wieder einschlafen und kehrt zurück ins Zeitalter produktbezogener elektronischer Katalogbuchhaltung.
- Community-Building über soziale Medien beherrschen nur wenige. Progressive Instagram-Auftritte wie die von Sennheiser bleiben die Ausnahme.
- Online-Strategien, die über Event-Kampagnen neue Kundengruppen in die Läden ziehen, werden vor allem von einigen wenigen Quereinsteigern betrieben.
- Hybride Vertriebskonzepte kann man – erst recht unter den Traditionsherstellern und den etablierten Regionalhirschen – lange suchen.
Die guten alten Marken sterben in Schönheit und Eleganz.
Das Highend-Gedöns und die Jugend
Bei den Themen Jugend und Preissensitivität hat sich die HIGH END SOCIETY durchaus bemüht. Die Initiative „Sounds Clever“, bei der Aussteller aufgerufen wurden, halbwegs günstige Komplettanlagen zusammenzustellen, war ein guter erster Schritt in die richtige Richtung. Wenn die Veranstaltungsformate nun noch in die richtige Richtung gehen und sich online öffnen, kann das was werden.
Nichts wird das aber daran ändern, dass ein großer Teil der Branche zu spät auf die Veränderungen des Marktes reagiert hat. In den nächsten Jahren werden leider leider leider viele große Namen der Branche für immer verschwinden. Kleine Highend-Schmieden, bei denen Gründer und Entwickler mit dem Lötkolben in der Hand phantastisch klingende Geräte gebaut und darüber vergessen haben, dass sie alt und ihre Haare schütter wurden. Sie legen nun einer nach dem anderen ihre Lötkolben aus der Hand und es gibt keine Nachfolgeregelung für ihre Unternehmen.
Und das sind zum Teil große Namen der Branche. Und es sind häufig die Nettesten. Ihre Unternehmen wurden nicht von Marketing-Strategen aufgehübscht, von Sales-Profis gestreamt. Sie kleben nicht zu jeder Messe ein neues Typenschild auf ihre alten, aber ewig jungen Gerätschaften. Sie sind ehrliche mittelständische Handwerker. Ich könnte hier eine Liste mit zwei oder drei Dutzend Namen nicht nur aus Deutschland hinschreiben. Keines dieser Unternehmen wird die HIGHEND 2030 noch erleben. Und dabei haben sie einen großen Teil des Reizes dieser Branche ausgemacht. Sie waren nicht nur klangentscheidend, sondern auch stilbildend. Sie haben die Musikkultur von der Seite ihrer Reproduktion her bestimmt. Ob ihren Abgang die HIGH END überleben wird? Da mache ich ein großes Fragezeichen.
Warum mir das Herz blutet
Warum blutet mir das Herz, wenn ich an den Niedergang der Hifi-Branche denke? Weil es in dieser Branche so viele so nette Menschen gibt? Ja auch. Vor allem aber, weil es um Musik geht. Und um gutes Hören. Man braucht dafür keine sauteure Musikanlage, die zigtausend Euro kostet. Aber eine möglichst gute Musikanlage braucht man doch. Ich habe immer schon ein wenig mehr fürs Musikhören ausgegeben als ich mir eigentlich leisten konnte. Anfangs waren es ein Dual-Plattenspieler, ein Heco-Verstärker, Grundig-Boxen, dann ein Spulentonband, Magneplanar Lautsprecher, irgendwann fette Röhrenverstärker, ein großes Clearaudio-Laufwerk, Duevel-Lautsprecher und so einiges mehr. Ich war immer auf der Suche nach gutem Klang. Heute verkleinere ich meine Anlage wieder. Aber ich bin und bleibe auf der Suche.
Und ich bin davon überzeugt, dass bewusstes Musikhören jung und geistig aktiv hält. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, die das belegen. 1993 untersuchte ein Team der University of California die Auswirkungen von Musik auf räumliches Denkvermögen. Dabei mussten sich Studenten entweder Mozart oder „Entspannungsmusik“ anhören oder sie wurden einfach nur einer großen Stille ausgesetzt. In langen Messreihen erwiesen sich die Mozarthörer um 8 bis 9 Punkte schlauer in damals beliebten „Intelligenztests“. Das ist natürlich sehr verkürzt, wenn ich nun behaupte, dass die Langzeithörer von Easy-Listing-Kaufhaus-Unterhosenabteilungsmusik ein wenig blöder sind … 😉
Andererseits zeigte ein Experiment der FU Berlin im Jahr 2006, dass Musik im Magnetresonanztomografen das Rolandische Operculum anregt. Dort werden unter anderem der Kehlkopf und die Stimmbänder gesteuert. Der Geist summt mit!
Eine Studie der Hochschule für Musik in Detmold wies im Jahr 2000 nach, dass die linke Hirnhälfte offenbar für die Feinanalyse musikalischer Strukturen zuständig ist, während die rechte Hirnhälfte sich den Grobstrukturen widmet. Musik ist eine Voraussetzung für komplexe ganzheitlich denkende Persönlichkeiten. Ähäm … Hierzu passt jedenfalls, dass Wissenschaftler nachweisen konnten, dass bei Musikern, wenn sie Musik von Bach hören, die linke Hirnhälfte besonders aktiv ist. Auch ist bei Musikern das Corpus callosum, das eine Verbindung zwischen beiden Hirnhälften darstellt, durchschnittlich signifikant kräftiger ausgebildet als bei Nichtmusikern.
Und schließlich: Von Prof. Dr. Gerald Hüther, dem Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universität Göttingen und Mannheim/Heidelberg, habe ich gelernt, dass nichts für die Entwicklung der kindlichen Intelligenz förderlicher ist als Singen.
So, ich höre jetzt auf mit Schreiben. Ich lege jetzt eine Platte auf. Von Bach. Oder Zappa. Oder „Kind of Blue“ (siehe Foto). Und Ihr solltet auch den Rechner ausschalten. Geht singen!
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Wenn Ihr dann mit Singen fertig seid: Über meine Lieblingsbranche Hifi habe ich hier schon öfter geschrieben:
High Noon im Hifi-Markt: Wie die High End-Hersteller das Social Media-Zeitalter überhören /Teil 1
Branchenblick Hifi – Teil 2: Der High End-Markt in den sozialen Medien
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