Das Handelsblatt als redaktioneller Megadienstleister
Medienprofi Gorkana hat zum Pressefrühstück mit Oliver Stock, Stellvertretender Chefredakteur des Handelsblatt, eingeladen. Und der demonstrierte wie erfolgreich der Verlag das Vorzeigeformat im vermeintlichen Spannungsfeld zwischen Online und Print platzieren konnte.
Unique User sind egal
Online verzeichnet das Handelsblatt monatlich rund vier Millionen Unique User. Eine Zahl die sich binnen weniger Jahre verdoppelt hatte. Dem misst Oliver Stock allerdings gar keine so große Bedeutung bei. Viel interessanter sei für ihn die Entwicklung von Diensten wie dem Digitalpass. Nach vierwöchiger Testphase kostet das Bezahlangebot 30,99 Euro im Monat und bietet Live App, ePaper, Premium Inhalte und Online-Archiv-Zugang. Das kommt an und bestärkt das Management in der Gründung neuer Formate: ein „Handelsblatt Club“ befindet sich gerade in der Entwicklung. Morning Briefing (Newsletter) und die Global Edition (Handelsblatt auf Englisch) finden ebenfalls ihre Leser.
Auch die selbstgedrehten Videos gefallen der Community, können aber laut Oliver Stock noch professioneller gedreht werden. Hier zollt er den Kollegen von „Die Welt“ seinen Respekt. In Zeiten von YouTube seien aber schnell gestrickte Filmchen völlig in Ordnung, sofern die Botschaft stimme.
Im Handelsblatt Social Media Newsroom stehen auf den Tischen jeweils zwei Rechner, einer zeigt die aktuellen News, der andere die Performance der Online-Seiten, die Verweildauer der User je Artikel und die Klicks. Erfolgskontrolle.
Medienkrise und Abwanderung der Leserschaft
„Auf dem Papier“ besteht die Redaktion aus nur einem Team. Die dauernde Diskussion – Online vs. Print –, die andere Verlage seit Jahren führen, verstummte im Handelsblatt und wurde durch einen konsequenten Ausbau der Online-Angebote ersetzt. Die Chefredaktion hat keine Angst vor einer Abwanderung seiner Print-Leser. Oliver Stock sagt: „Uns ist es völlig schnurz, wo wir unsere Leser erreichen. Wir müssen da sein wo unsere Kunden sind.“
Eine Medienkrise sieht er nicht. Manche Verlage hätten es natürlich wirtschaftlich schwerer. Es könne aber doch keine Krise sein, wenn sich durch Online-Angebote eine Leserschaft verhundertfacht.
Heute überlegt der Redakteur intensiv, welcher Kanal sich für sein Thema eignet und wie er seine Artikel verkaufen kann. Die Redakteure haben durchaus ihre Präferenzen: einige sehen ihren Artikel lieber online vor einem großen Publikum, andere betrachten Print noch immer als wertiger und streben mit ihrer Arbeit aufs Papier. Letztendlich bestimmen das Thema und seine Aufbereitung den Kanal.
Agenda Freiheit
Recherche und Aufbereitung von Hintergründen sind also das Kerngeschäft der Handelsblatt-Redakteure. So kann sich die Redaktion durch Qualitätsinhalte von bloßen Nachrichten-Plattformen absetzen. Beim Handelsblatt herrscht die „Agenda Freiheit“: Kein Journalist muss in der Redaktion präsent sein, sondern dort, wo sein Thema ist. Eine Handelsblatt-Redakteurin, die auf Rohöl-Themen spezialisiert ist, saß jahrelang in Düsseldorf, bis sie nach Dubai ging, um vorort intensiver recherchieren zu können. Sorgfalt mündet in Erfolg.
Fehleranfälliges Online-Geschäft
Das tagesaktuelle News-Geschäft wird fast ausschließlich online abgewickelt. Online ist schnell. Online ist deshalb auch fehleranfällig. Eine dpa-Meldung wird online direkt übernommen, für die Print-Ausgabe recherchiert die Redaktion noch einmal nach.
Manchmal kommt es auch zur Leserkritik, weil das Handelsblatt online zum selben Sachverhalt unterschiedliche Meinungen bringt. Das liegt an der großen Freiheit innerhalb der Redaktion und an der gebotenen Schnelligkeit. Bei der Flüchtlingsfrage zum Beispiel tendiert der eine Redakteur, bei aller gebotenen Neutralität, mehr zu Merkel als zu Seehofer. Die Redaktion strebt nicht nach einer zentralistischen, einheitlichen Linie. Eine Vielfalt der Meinungen ist hier offenbar völlig in Ordnung, sofern sich alles im demokratischen Rahmen bewegt.
Stock setzt hier voll auf die Urteilsfähigkeit seiner Leser, die durchaus zwischen Online und Print unterscheiden können und sich dieser Problematik bewusst sind. Zu derlei Kritik äußert sich die Redaktion folglich auch nicht.
Für Börsen-News kann die Redaktion auf Menschen verzichten, denn sie werden von Robotern erstellt – und niemand merkt das. „Den Maschinen wird das überlassen, was Standard ist, die Redakteure konzentrieren sich auf den Rest.“
Digitale Plattformen als einziger Wettbewerb
Als direkten Wettbewerber betrachtet Oliver Stock nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die FAZ liege in ihrer Entwicklung jedoch zwei bis drei Jahre hinter dem Handelsblatt. Ob Oliver Stock die Financial Times Deutschland (FTD) vermisse, die 2012 eingestellt wurde? Er antwortet scherzhaft, dass das Handelsblatt zehn Jahre daran gearbeitet habe, dass sie nicht mehr da ist. Ernsthaft ergänzt er, dass das Erscheinen der FTD im Jahr 2000 dem Handelsblatt den längst überfälligen Kick nach vorne gegeben hat. Das Handelsblatt war zu jener Zeit verstaubt. Der Wettbewerb belebte die Redaktion. Inhaltlich sei die FTD enorm stark gewesen, aber leider hatte der Verlag geschwächelt. So kam es zum Fall.
Als echte Konkurrenz fürchtet Oliver Stock nur Google-Angebote, YouTube oder auch Buzzfeed. Die Plattformen bieten Raum für News und Berichte von anderen. Digitale Plattformen machen heute und in Zukunft das Geschäft.
Für die Redakteure gilt es, mit guten Geschichten dagegen zu setzen. Im täglichen Informations-strom erkennen sie ein Thema, dass langsam aufkommt und versuchen dieses pünktlich zu besetzen und aufzubereiten.
Auch Twitter hält Oliver Stock für einen hochinteressanten Kanal für Rechercheansätze. Stock folgt diversen Twitterati und scannt diese regelmäßig. So stieß er auf eine Twitter-Unterhaltung zwischen zwei Commerzbank-Angestellten, die sich zu ihrem Bonus-System austauschten. Daraus entstand eine neue Story.
Pausenlos an den Themen dran
Der typische Redaktionstag beginnt um 9:00 Uhr mit einer Redaktionskonferenz. Hier sitzen die Ressortleiter und „andere Wichtige“. Donnerstags wird zusätzlich die Wochenendausgabe geplant, so dass auch die „Schöngeistigen“ mit dabei sind. Die Redaktionen aus Frankfurt und Berlin werden zugeschaltet. London und Paris sitzen quasi auch mit am Tisch.
Die Konferenz entscheidet über Themen und Kanäle. In die Printausgabe kommt nur noch Exklusives (Hintergründe zu den News, Kommentierendes, Neues, aber nicht Akutes).
Brisante Themen erkennen die Redakteure durch ihre Recherche und zuverlässige Informanten. Das Investigativteam arbeitet im engen Austausch mit Whistleblowern, genießt komplette Freiheit und bekommt alle Zeit eingeräumt, Themen nachzugehen. Wie heiß die Themen sind, zeigt sich darin, dass die Rechtsabteilung ständig involviert ist.
Der ganze Tag besteht aus andauernden Abstimmungen der Themen und Kanäle.
Ab 15:00 Uhr/16:00 Uhr gilt die volle Aufmerksamkeit der Redaktion der Printausgabe. Davor und danach werden die einzelnen Apps bestückt. Der Spätdienst übernimmt dann das „Morning Briefing“.
Die Online-Seiten werden ab 22:00 Uhr an die Verantwortlichen in New York übergeben, China soll ebenfalls bald mit einbezogen werden. So ist das Handelsblatt 24 Stunden an allen Tagen der Woche im Dienst. „Lebenslänglich“ sagt Oliver Stock und lacht.
Die Zusammenarbeit mit PR-Leuten
Eine gute Nachricht für alle PR-Freunde der Pressemitteilung: sie ist noch immer zeitgemäß, die Pressekonferenz auch und Messen sowieso. Warum Messen sowieso? Weil da der persönliche Kontakt zu CEO möglich ist und die Redakteure Geschichten und Trends aufspüren können.
PRler sollen laut Oliver Stock keinen Abstand von der Pressemitteilung nehmen, aber der persönliche Anruf ist für den Journalisten einfach das Interessanteste. Er möchte im Gespräch Dinge erfahren, die er noch nicht weiß und die in keiner Mitteilung stehen und er möchte auch gerne die handelnden Personen im Unternehmen sprechen.
Der Wunsch eines Stellvertretenden Chefredakteurs
Oliver Stock erhält rund 500 E-Mails täglich, dazu kommen die Nachrichten über diverse Social-Media-Accounts. Selektion und Priorisierung ist also ständige Aufgabe der Redkteure. Daher ist der persönliche Kontakt zu den PR-Verantwortlichen entscheidend.
Ein Redakteur wünscht sich Exklusivität. Er möchte bevorzugt behandelt werden. Zwischen PR-Referent und Redakteur sollte es ein vertrauensvolles Miteinander geben. Der Journalist will nicht aufs Glatteis geführt werden. Bevor der Pressesprecher Halbwahrheiten ausplaudert, soll er doch bitte ganz klar „keine Aussage“ zum Sachverhalt treffen. Der Journalist erwartet Ehrlichkeit.
Erreichbarkeit ist in der Redaktion kein Thema. Eine beste Zeit im Handelsblatt anzurufen, gibt es nicht. Einfach probieren!
Freigabe von Zitaten und Texten
Immer wieder ein Thema zwischen Unternehmen und Redaktion ist die geforderte Zusendung von Artikeln vorab und Freigabe von Zitaten nach Pressegesprächen. Das sei eine sehr deutsche Kultur. Ein CEO im Gespräch mit einem Journalisten müsse schon wissen, was er sagen will und darf und was nicht. Manchmal seien die mündlichen Interviews auch derart langweilig, dass der Journalist sich die Freiheit nehme und diese schriftlich aufpeppe. So manche Presseabteilung sei davon sehr angetan gewesen, andere wiederum nicht.
Wir PRler wissen allerdings auch, dass eine Prüfung schon manches Mal durchaus sinnvoll war.
Von Düsseldorf aus in die ganze Welt
Das Handelsblatt beschäftigt rund 180 Redakteure weltweit, 25 davon sind Exklusiv-Korrespondenten, die ausschließlich für das Handelsblatt arbeiten. Das Korrespondentennetz an sich ist noch größer. In Deutschland wurden neben dem Hauptsitz in Düsseldorf noch Redaktionen in Frankfurt und Berlin errichtet. Daneben existieren noch Büros in diversen Städten. Die Düsseldorfer Redaktion entstand nach dem Krieg, da hier zahlreiche Dax-Unternehmen beheimatet waren. In Düsseldorf arbeiten zirka 80 Redakteure und Blattmacher, die die einzelnen Kanäle bestücken.
Zusammenfassung: Der Einblick in den Redaktionsalltag des Handelsblatt zeigt uns PR-Menschen wieder, dass wir in den von uns betreuten Unternehmen zu persönlichen Kontakten drängen sollten und dass wir spannende Geschichten suchen und diese entsprechend erzählen müssen.
Das geht auch auf einem Blog, entsprechend verlinkt, über Twitter. Vielleicht meldet sich ja Oliver Stock…
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