Social Media und Hörfunk: „Smart Radio“ und der „Second Screen“ für den Radiohörer
Unter dem Titel „Smart Radio“ diskutiert die Hörfunkszene seit einigen Jahren ihre Beziehungen zum Thema „Social Media“ auf zahlreichen Kongressen und Online-Foren. Schließlich sind ja Online- und soziale Medien nicht nur eine lebensbedrohende Herausforderung für die Holzpresse, sondern auch für die einst funkelnden funkenden Medien.
Und wie das so ist, so ist diese Debatte natürlich wichtig und richtig, doch purzeln die Begriffe allzu häufig durcheinander und jeder meint etwas völlig anderes, wenn er von der sozialmedialen Zukunft des Hörfunks spricht. Deshalb möchte ich im Folgenden drei verschiedene Herausforderungen nennen, die man auch hübsch getrennt diskutieren sollte:
Gar noch nichts mit Smart Radio hat die Nutzung sozialer Medien als Recherche-Instrument zu tun. Tatsächlich sind Twitter, Facebook und Blogs heute für Hörfunkmacher ebenso unersetzliche Quellen, wie für TV- und Print-Journalisten.
Und ebenso wie diese verzweifelt der Radiomann heute oftmals an den Problemen der Qualifizierung der Authentizität sozialer Informationen. Das Wissen um Social-Media-Tools in den Redaktionen ist allzu häufig noch erbärmlich. Dies ist kein Vorwurf an die Redakteure, sondern ein Vorwurf an die Sender, die ihren Mitarbeitern kaum noch Zeit lassen für gründliche Recherchen und die Auseinandersetzung mit neuen Medien. Professionelle Monitoring-Tools sind in der Themen- und Quellenrecherche viel zu selten gesehen.
Smart Radio muss schneller sein, als der Funk
Im Kern geht es beim Smart Radio doch eher um die Nutzung der neuen sozialen Online-Medien zur Marketing-Unterstützung der Hörfunkkanäle. Man sieht, dass die Internet-Nutzung der Hörer schnell wächst, während die Radio-Nutzung bestenfalls als stabil bezeichnet werden kann.
So gibt es heute kaum mehr einen Rundfunksender ohne eigene Website. Was gesendet wird, wird locker noch einmal geblogt. Und zwar leider häufig in dieser Reihenfolge: erst kommt der Funk, dann das Web. Welch Unfug. Jan Eggers, Social Media Manager beim HR, reklamiert zurecht die Aktualitätsdominanz der Website (Zitate sinngemäß zusammengefasst und grob gekürzt):
Der Hörer erwartet von einer Website nicht alle oder mehr Inhalte, sondern Echtzeitberichterstattung und Konzentration auf das Wesentliche. … Das Radio teased Website-Inhalte. Es gibt keinen Grund mit einer Onlineveröffentlichung auf die Ausstrahlung zu warten.
Ein typisches Beispiel für das Teasern des Online-Angebots im Funk würde wohl so lauten:
„Haben Sie Lady Gaga in ihrem neuen Outfit gesehen? Auf den MTV Musicawards war sie fast nackig. Gucken Sie mal auf unsere Website.“
So ähnlich sollte wohl Radio im Online-Zeitalter funktionieren: beide Plattformen teasern sich gegenseitig, je nachdem, welches Medium einen formalen oder zeitlichen Vorsprung für sich beanspruchen darf.
Radio im Web ist extrem erfolgreich
Viele Webseiten von Radiostationen gehören heute schon zu den bestbesuchten Online-Angeboten. Knapp eine Million Unique User im Monat sind eine Ansage:
Und auch Facebook ist eine gute Basis für zusätzliche „Hörer“-Kontakte. Sender wie sunshine live, BIG FM und Antenne Bayern haben bereits mehr als 340.000 Fans auf Facebook:
Radio- und Online-Werbeformen unterscheiden sich
Und genau deshalb kann auch auf beiden Plattformen ordentlich Geld verdient werden.
Freilich begehen die Sender allzu häufig den Irrtum, zu glauben, wer Sendezeiten vermarkten kann, der könne dies auch im Online-Business. Wie auch im Print-Markt müssen beide Plattformen getrennt vermarktet werden. Wer Zeiten im Funk verkauft, der versteht noch lange nicht, wie man Pre-Roll-Spots vor Online-Video-Streams vermarktet. Vor allem aber geht es im Online-Geschäft weniger um klassische Werbeformen, als vielmehr um die Vermarktung kompletter Kampagnen mit interaktiven oder auch direkten E-Commerce-Elementen. Nach dem Hörfunk-Clip vom Piza-Service kann man auf der App den Teigfladen auch gleich bestellen. Und vielleicht sogar exklusiv für unsere Hörer zum Sonderpreis: Zahl eine, wirf zwei weg! Und im Bar-Finder, der auf der Radio-App die Mitternachtssendung begleitet, wird die Position der Bar natürlich von der Bar bezahlt. So läuft das auf Google und im Web. Da tut sich aber der Spot-Verkäufer schwer. Der kennt höchstens zehn Prozent Rabatt für besonders liebe und geizige Kunden. Er verkauft traditionell über den Preis, nicht über die Empathie für die Vermarktungsstrategie seiner Kunden.
Da fast alle Hörfunksender auf ihren Online-Plattformen ihr Programm auch als Stream anbieten, liegt natürlich wenig näher als geschickte Instream-Werbung, die sich durchaus vom Hörfunk-Spot unterscheiden darf. Dabei dürfte die Instream-Audio-Werbung in den kommenden Jahren schneller noch wachsen, als Video-Stream-Werbung, für die in 2014 ein Wachstum von 20 bis 30 Prozent erwartet wird.
Aber das Radio der Zukunft wird mehr sein als erfolgreiches Multi-Channel-Publishing und Cross-Plattform-Marketing
Aber das Radio der Zukunft wird mehr sein als erfolgreiches Multi-Channel-Publishing und Cross-Plattform-Marketing. Dieser Satz ist mir so wichtig, dass er hier den Status einer Google-freundlichen Zwischenüberschrift bekommt. Logisch.
Denn es ist ja nicht nur so, dass Radiohörer jetzt im Web surfen. Nein – auch das Radiohören verändert sich. Den vielbemühten „Second Screen“ gibt es längst auch beim Radiohören. Freilich fehlt der „erste Screen“. Aber so wie die Zuschauer des Tatort heute fleißig per Twitter über den Mörder diskutieren und auf Facebook – meist zurecht – die Auswechslung von Mario Gomez fordern, so zücken viele Hörer ihre Tablets, iPads und Windows Phones – der Windows Phone Nutzer bin ich, der Autor; ich geb’s ja zu – wenn der Zündfunk oder die Jazz-Sendung über den Äther oder durch das Kabel rauschen. Leider gibt es bislang für den Second Hörfunk-Screen noch kaum statistische Daten – ganz im Gegensatz zum Fernsehen. Aber ich denke, das Nutzungsverhalten wird sich im Hörfunk ähnlich präsentieren, wie im Guck-Funk:
Gerne recherchiert man während einer (Hörfunk-)Sendung im Netz. Und natürlich wird auf Facebook und Twitter über Radiosendungen diskutiert.
Ganz nahe liegend ist darüberhinaus die Nutzung von Tools wie Soundhound, mit dem man gesendete Songs identifizieren und auch gleich noch kaufen und runterladen kann. Soundhound funktioniert sogar unter Windows. Ich mag’s.
Und damit währen wir ganz schnell beim Thema „Radio-App“.
Was eine gute Radio-App ausmacht
Noch immer erschöpfen sich zahlreiche Apps von Radio-Sendern im einfachen Streaming von Hörfunk-Inhalten. Und auch die Integration von Soundhound und E-Shops zum Musik-Download kann nicht der Weisheit letzter Ratschlag sein. Sender wie BIG FM zeigen heute schon, wohin die Reise geht:
BIG FM integriert auch Online-Video und in seine App. Die Erfolge lassen sich sehen und hören:
- 2,6 Mio Hörer täglich
- 412.000 Hörer pro Stunde im Schnitt
- >850.000 Facebook Fans gesamt
- 900.000 Visits auf bigFM.de
- 1,5 Mio Mobile Ad Impressions
- 150.000 Video Abrufe pro Monat
- 175.000 TV App Downloads
- 25.000 Spotify Follower
Eine gute Radio App muss aus meiner Sicht heute zwei Dinge leisten:
1. Sie muss alle die Dinge bieten, die die Hörer auf ihrem Second Screen so tun. Und das ist eine ganze Menge:
Besondere Chancen haben hier meiner Meinung nach lokale Hörfunksender. Hier geht es um Ausgeh-Tipps, um Verkehr und Wetterinformationen, aber auch um lokale Communty-Bildung. Die Grenzen zwischen inernationaler Musik und lokaler Community sind fließend.
Denkbar sind aber auch interaktive Tools bis hin zum Hörer-Radio: laut.fm hat zum Beispiel ein User-generated-radio implementiert: Wenn dir die Musik nicht passt, dann mach dir doch die eigene Sendung! Für die Beleseneren unter uns: Bert Brechts Radio-Theorie und Walter Benjamins Kasperl-Radio wird endlich Wirklichkeit. Und im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Experimentaltheater des „offenen Kanals“ funktioniert das ganze ohne Ü-Wagen und Wartelisten für die eigene Sender-Lücke: online nämlich.
2. Die Radio-App muss zusammenfügen, was zusammengehört: die verschiedenen Kanäle der Hörer-Reaktionen und -Debatten auf Facebook, Twitter, Blogs und diversen Online-Foren.
Und das ist eine ganz große Herausforderung: heute geben die Hörer ihr Feedback auf der Web-Site des Senders ab, in Blogs, auf Foren, in Facebook, in Twitter und in anderen mehr. Diese Diskussionsstränge gilt es zu bündeln.
Hierfür gibt es heute mehrere Ansätze:
Miteinander statt nebeneinander: Pageflow
Eine der interessantesten dürfte Pageflow sein. Dabei handelt es sich um eine Plattform, die beim WDR für die eigene Nutzung entwickelt wurde, und die heute frei und kostenlos als Open Source verfügbar ist. Pageflow verbindet Videos, Bilder, Audio und Text zu interaktiven Reportagen. Redakteure können gemeinsam Reportagen über einen intuitiven Editor im Browser erstellen und veröffentlichen. Die Reportagen werden auf Desktop-Monitoren und mobilen Endgeräten optimal dargestellt. Pageflow ist also ein multimediales und teamorientiertes Cross-Editing- und -Publishing-Tool.
Mein persönlicher Traum: audiobreak
Ghostthinker, eine Gruppe toller innovativer Video-Menschen aus München, haben mir mal eine Lösung zur „Social Rich Video Annotation“ gezeigt. Dabei wird ein VideoStream um einen Kommentar-Layer ergänzt. Auf dieser „Kommentar-Spur“ können Zuschauer an jede beliebige Stelle eines Videos Texte, Bilder oder eben auch Audio- und Video-Kommentare hinterlassen.
So kann man blitzschnell entlang der Texte in einem Video navigieren, man hat viel eher Lust einen Film zu kommentieren, weil man „auf den Punkt“ kommen kann, und man kann szenengenau Sharen.
Warum soll das nicht auch auf der Tonspur funktionieren? Ich kann mich dann an jeder beliebigen Stelle eines Hörfunkprogramms einklinken und meinen süßen Senf dazu geben. Klasse. Leserbriefeschreiben war gestern. Lieber Zündfunk, den ich seit vierzig Jahren ergeben und oft aufgewühlt verfolge: führt das ein, ja? Bitte! Dann bleib ich dem bayerischen Jugendfunk auch bis ins Rentenalter treu.
Was nicht kommen wird: das Do-it-yourself-Radio
An was ich aber gar nicht glauben will, ist das Do-it-yourself-Radio, wie es das schweizerische Projekt DIY.fm entwickelt hat. Das wurde zwar Grimme-prämiert, aber die Idee ist so alt und so erfolglos vor Jahren schon im Print-Markt gewesen, dass da wohl nix draus wird.
Auf https://diy.fm/ kann man sich aus mehreren Sendern sein eigenes Programm zusammenstellen: quasi den Kulturteil der FAZ, die Politik der taz und Lokales von der Süddeutschen. Als Pull-Dienste gab es sowas mit Online-Angeboten der Papier-Medien schon vor vielen Jahren. Dieser Radiobaukasten ist die Online-Zukunft des Vorgestern, der Heinzelmann des Digitalzeitalters.
Targeting Radio – schöne nervige Welt
Eher wird es wohl etwas mit innovativem Targeting-Radio. Wenn man weiß, dass sich viele Hörer von ihrem Smartphone wecken lassen, dann es es nur noch ein kleiner Schritt über die Radio-App zum morgendlichen Hörer-Gruß:
„Guten Morgen Michael, wie geht´s Dir heute? Hier sind die wichtigsten Infos zum heutigen Tag für Dich. Folgende deiner Freunde haben heute Geburtstag. Und nun liest dein Gute-Morgen-Onkel die Liste der geburtstagenden Facebook-Freunde vor: … Ach ja, und noch etwas: du bist ja Mozart-Fan. Wusstest du, dass heute vor genau zweihundertfünzig Jahren der kleine Amadeus Probleme mit dem Stuhlgang hatte? Deshalb haben wir dir seine Kleine Nachtmusik aus dem Archiv geholt. Für den Beginn eines schönes Tages mit deiner Nerv-Radio-App. Lalülalü“.
Spätestens dann erschlage ich mein Radiogerät, so wie vor vielen Jahren im morgendlichen Zorn meinen Wecker. Ganz bestimmt. Und ganz smart.
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